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Gedanken 2023, Woche 28

Mein Wille geschehe?



(1) Es genügt nicht, Ich zu sagen oder zu denken, um aus eigenem Antrieb unterwegs zu sein. Dafür ist das Ich gegen Vorspiegelungen zu anfällig, besonders solchen der Triebe und der Herde. Deren uniforme Sinnesart tarnt sich gern als korporatives Ich, das konturlosen Wesen simulierte Individualität verheißt, in naher Verwandtschaft zur unechten Individualisierung durch Massenprodukte.

(2) Wir täuschen uns über unseren eigenen Willen. Zumeist handelt es sich bei ihm nur um einen langfristigen, wenig bewussten Abgleich mit der Welt, in den die Erfahrungen der Ahnen ebenso einfließen wie die Belange der Nachfahren. Wenn auch nicht zu ausschließlich begrüßenswerten Zwecken...


(3) Ohne freies Bewusstsein ist eigenes Wollen gar nicht zu denken. Entsprechend selten sind beide.


(4) Ein ausgeprägter, bewusster Wille vermag wie zum Ausgleich sogar Einfluss zu nehmen auf Ereignisse, die weit jenseits der Reichweite des momentanen Vorstellungsvermögens liegen.


(5) Der eigene Wille ist bei vielen Menschen indessen so schwach entwickelt und unfrei, dass er sich hauptsächlich in spontanen, lustnahen Abwägungen ausdrückt, die dem Triebhaften näher sind als profundem Entscheiden.


(6) Es gibt jenseits der mineralischen Nöte und vitalen Bedürfnisse auch Motive, die über der Zeit liegen und uns essentiell durchdringen, ja verpflichten, ohne uns darum zu entmündigen: Motive der Sippe, der Kultur und des Menschseins überhaupt. Entsprechend der Tiefe unserer Selbstwahrnehmung gestaltet sich die motivische Aneignung eindringlicher oder verhaltener. Je näher aber unser Bewusstsein den Zusammenhängen tritt, desto höher fällt der motivische Eigenanteil aus und desto unbedeutender ist der Aspekt kollektiver Nötigung: Transzendenz des Faktischen!


(7) Weil die meisten Menschen nur in sehr geringem Maße zu eigenem Wollen befähigt sind, stellen Gruppenzwang und -dynamik für sie in der Regel keine Zumutung dar. Ganz im Gegenteil fühlen sie sich in Gruppen beispiellos geborgen und entdecken noch im übelsten Kollektivismus, der sie zu derben Zwecken missbraucht, eine Art sakralen Gruppenwillen, dem sie sich lustvoll unterordnen.


(8) Wollen heißt notwendig, sich zu vereinzeln, indem der Bezugspunkt allen Wollens das Ich ist, ohne das sich kein Wille artikulieren kann oder überhaupt ein Mensch etwas zu wollen vermag. Und auch ein übers Ich hinausgehendes Wollen, versammelt im Wir, ist erst denkbar, wenn die einzelnen Ichs sich frei auf ein gemeinsames Ziel hin verabreden, im Vollbewusstsein mehr oder minder nuancierter, zu vernachlässigender Differenzen. Alles andere ist Triebhaftigkeit und Herdendrang.


© 2023 alexander hans gusovius


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